Gläubig oder nicht - die Seelen der Angehörigen erfüllen unser Leben mit Sinn
Die Blätter fallen und die Tage werden dunkler. Nebel steigt auf und Väterchen Frost hält allmählich Einzug im Land. Der Abschied von den wärmenden Sonnenstrahlen des goldenen Spätherbstes erfüllt uns mit Melancholie. Mit dem Lauf der Jahreszeiten denken wir oft unwillkürlich auch an die Vergänglichkeit des Lebens selbst.
Auf Leben und Tod
Wir sitzen heute gemütlich in mollig warmen Wohnräumen und können den Winter mit allem nur erdenklichen Luxus und ohne Not überbrücken. Für unsere Vorfahren war die vierte Jahreszeit dagegen immer wieder eine harte Bewährungsprobe. Sie mussten vorsorgen, horteten Feuerholz und bevorrateten sich mit Lebensmitteln. Und doch konnte es passieren, dass in besonders langen und harten Wintern Holz und Nahrung irgendwann zur Neige gingen.
Bestenfalls die gute Stube war einigermaßen beheizt. Die Häuser waren klamm, der eisige Wind zog durch alle Ritzen und besonders Arme und Kranke mussten im Winter nicht selten um ihr Leben bangen. Der Tod war allgegenwärtig, der Geisterglaube sehr lebendig. Abends beim Kerzenschein erzählte man sich finstere Spuk-Geschichten und gab sie so von Generation zu Generation weiter.
Die armen Seelen im Fegefeuer
Der christliche Glaube an ein Leben nach dem Tod und an das Fegefeuer schürte viele Vorstellungen, die uns heute abwegig erscheinen. Demnach hat nicht jeder Tote Erlösung und ewige Ruhe gefunden. Nicht wenige trieben noch lange ihr Unwesen auf Erden. Die armen Seelen konnten nämlich vom Mittagsläuten an Allerheiligen bis zum Morgen des Allerseelen-Tages dem Fegefeuer entrinnen, so glaubte man. Diese unruhigen Geister suchten dann ihre alten Wohnstätten wieder auf, um bei ihren Verwandten Trost zu suchen. Man musste sie daher besänftigen, indem man ihre Gräber schmückte und ihnen besondere Ehre und Respekt erwies.
Versöhnung und Loslassen
In den alten Vorstellungen steckt, wie so oft, ein tiefer, wahrer Kern. Die Begegnung mit den Verstorbenen war immer auch ein Akt der Aussöhnung, des Verzeihens und der Liebe. Das ist bis heute so. Nach altem Glauben bleiben die Toten ans Diesseits gebunden, so lange die Lebenden mit ihnen hadern oder sie in ihrer Trauer nicht loslassen können. Der Besuch der Gräber und das Gedenken dienen der Loslösung und damit der Erlösung der Toten - und der Lebenden. Beide können ihren Frieden nur finden, wenn sie loslassen und losgelassen werden.
Die Totengedenktage im November
Das Totengedenken beginnt mit Allerheiligen und Allerseelen (1. und 2. November). An beiden Tagen ehren die Katholiken ihre verstorbenen Anverwandten, die Heiligen und die Märtyrer. Die evangelische Kirche begeht ihre Gedenkfeier für die Toten am zweiten Novembersonntag, dem Totensonntag. Er läutet zugleich das Ende des protestantischen Kirchenjahres ein. Allen gemeinsam ist der Volkstrauertag am zweiten Sonntag vor dem ersten Advent. Er erinnert an die Kriegstoten und die Opfer der Gewaltherrschaft und wird seit 1926 begangen.
Allerseelen-Brauchtum
Beim Allerseelen-Brauchtum vermischen sich heute noch heidnische und christliche Tradition. Viele Gräber sind mit weißen Blumen geschmückt. Weiß ist seit jeher die Farbe der Unschuld und Reinheit. Das Grablicht spendet dem Verstorbenen Wärme, seine Flamme setzt eine Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten. Es erleuchtet zudem den Weg der Seele in das Jenseits. Deswegen ist es auch üblich, beim Zwiegespräch mit dem Toten in den eigenen vier Wänden eine Kerze zu entzünden.
Lärm schreckt die Seelen – man sollte ihn also in der Nacht, in der sie aufsteigen und heimkehren, unterlassen. Manche lassen am Abend einen Rest vom Essen für den Toten auf dem Teller zurück und in vielen Regionen Deutschlands ist es heute noch üblich, spezielles Gebäck für den Gedenktag anzufertigen: Die „Armen Seelen“, auch Seelenwecken, Seelenstriezel oder Seelenbrezen genannt, werden über Nacht für den Toten auf den Esstisch gestellt. An manchen Orten wird damit am Allerseelentag ein Patenkind von seinem Paten beschenkt. Bei jedem Bissen, der verspeist wird, so sagte man früher, würde eine Seele aus dem Fegefeuer befreit.
Totengedenken stiftet Sinn im Leben
Nicht alle teilen den Glauben an ein Sein nach dem Tode. Dennoch halten viele an den alten Traditionen fest. Weil sie die damit verbundenen Rituale als tröstlich und sinnstiftend empfinden. Das gilt in besonderer Weise für jene, die in den zurückliegenden Monaten liebe Verwandte oder Freunde verloren haben und noch immer mit der Trauerarbeit beschäftigt sind. Manchmal ist so ein Verlust kaum zu begreifen und nur schwer zu verschmerzen. Wir können ihn nur als Schicksal annehmen lernen. Rituale helfen uns beim Abschied nehmen, bei der Versöhnung und beim Loslassen. Das besondere an den Gedenktagen ist, dass wir dann mit unserer Trauer nicht alleine sind. Wir dürfen uns getröstet und geborgen fühlen in einer Gemeinschaft von Menschen, die mit uns fühlen und die selbst tiefsinnigen Gedanken über den Tod und das Leben nachhängen.
Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit
Im Gedenken an die Toten setzen wir uns auch mit unserer eigenen Vergänglichkeit auseinander. Schon weil uns mit den Jahren mehr und mehr bewusst wird, dass auch unsere Zeit begrenzt ist. Wir verlieren geliebte Menschen und erfahren dadurch immer deutlicher, was es bedeutet, loszulassen. Wir entfernen uns durch solche Überlegungen von der Oberflächlichkeit und von den vielen überflüssigen Dingen des Lebens. Wir gehen in die Tiefe. Niemand weiß, wohin dereinst die Reise geht, aber wir sollten lernen, ohne Angst auf das Jenseits zugehen. Ängstigen kann der Tod nur den, der sich weigert, ihn als notwendigen und stets gegenwärtigen Teil des Lebens anzunehmen und sich damit zu Zeiten zu befassen.