Der Narziss und die Moral
Der Narziss ist ein Relikt aus der Urzeit. Auch sein Sinn für Humor ist recht archaisch. Die ursprünglichste Form von Humor ist nun einmal die Schadenfreude: Lustig ist, wenn es andere böse erwischt und nicht mich selbst. Davon zeugt noch heute Volkes Stimme in den ländlichen Regionen im Norden Bayerns. Dort gibt es ein über Jahrhunderte bewährtes Stoßgebet angesichts eines herannahenden Gewitters:
Heiliger Sankt Florian,
verschon mein Haus,
zünd‘ andere an!
Vom Nutzen der Frömmigkeit
Die eigentliche Bedeutung des Wortes „Frömmigkeit“ leitet sich ab vom althochdeutschen „fruma“, was so viel bedeutet wie „Vorteil“ oder „Nutzen“. Frömmigkeit ist also genau genommen Verhalten, das in einem gewissen Kontext nützlich erscheint. Das Befolgen von Regeln der jeweils geltenden Religion zum Beispiel erschien vielen Menschen zu gewissen Zeiten aus naheliegenden Gründen nützlich. Den einen sicherte die Frömmigkeit schlicht das Überleben, den anderen das Erklimmen der Karriereleiter. Sinnfragen galten damals als ziemlich töricht, weil sie meistens tödlich endeten.
Die moralische Mission des Narzissten
Der Narziss verstand es zu allen Zeiten wie kein anderer, seinen Wunsch nach Geltung und Anerkennung, nach Macht und Wichtigkeit in das Gewand einer durch und durch moralischen Mission zu kleiden. Zum Beispiel, indem er für „soziale Gerechtigkeit“ oder am besten gleich für eine „bessere Welt“ kämpft. Er rettet die Welt und das tut er natürlich nicht etwa für sich, sondern für die Menschheit. Der Narziss findet immer einen guten Grund, Gutes zu tun. Aber, wie es der Teufel will, kommt ihm das stets auf wunderbare Weise auch selbst zu Gute. Keiner befolgt so wortgetreu die alte lateinische Rechtsformel für gegenseitige Verträge „do ut des“ - ich gebe, damit du gibst. Das ist seine Maxime und gleichzeitig der Schlüssel zu seinem Sozialverhalten. Der Narziss gibt wirklich nur aus einem Grund, nämlich damit ihm gegeben wird. Am besten mehr, als er gegeben hat. Genau das was er haben möchte. Und er wird Dich unweigerlich daran erinnern, dass er gegeben hat und Du am Zuge bist.
Ja, der Narziss gibt auch. Aber nur, damit er anschließend alle Welt auffordern kann, es ihm gleich zu tun: Nun gebt auch ihr (mir, was ich brauche), damit euch gegeben wird!