Der Individuationsprozess nach Carl Gustav Jung
Ziel der Individuation oder Ganzwerdung ist nach Carl Gustav Jung die Menschwerdung - die Entwicklung des „Selbst“. In einem ersten Schritt auf diesem Weg soll das Unbewusste, das Dunkle, der Schatten akzeptiert und in die eigene Persönlichkeit integriert werden. In eine Persönlichkeit, die vorher nur das Helle, das sozial Akzeptiere kannte.
Auf diesem Weg lauern Gefahren. Der Mensch begegnet dort den Archetypen. Sie besitzen große Macht. Manch einer verliert sich darin und hält sich fortan für einen gottgleichen Übermenschen. Oder für die von Liebe besessene Übermutter, für ein Lichtwesen oder gar für einen Engel. Für einen Schamanen, einen Magier, eine Hexe oder eine Heilerin.
Licht und Schatten
Der Verlust des Selbst führt zur „Ich-Inflation“. Man fällt einer neuen Besessenheit anheim, wird wieder zum „Spielball unbewusster Mächte“, aus deren Fängen man sich durch das Erkennen und Anerkennen der Archetypen im eigenen Unbewussten ja gerade befreien wollte.
Aber auch derjenige, der glaubt, nur die schönen Dinge bewirken und die hässlichen „wegzaubern“ zu können, befindet sich auf einem gefährlichen Irrweg, denn
„Die "lebende Gestalt" bedarf tiefer Schatten, um plastisch zu erscheinen. Ohne den Schatten bleibt sie ein flächenhaftes Trugbild oder – ein mehr oder weniger wohlerzogenes Kind.“
[Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten. In: Gesammelte Werke Band 9.1, par. 42-86]
Die dämonische Macht der Archetypen
Die Archetypen sind nach C. G. Jung der bewegende Kern hinter allen energetischen Abläufen der Psyche. Von ihnen geht die Bewegung des Willens aus, aber auch der nicht willentlich steuerbare innere Antrieb. Sie manifestieren sich als symbolische Bilder. Ihre Inhalte können sich wandeln, ihr unanschaulicher Kern bleibt erhalten. Diese Bilder sind die psychische Repräsentanz der Instinkte, der geistige Trieb oder Antrieb, der Ursprung aller Geistestätigkeit. Es sind Bilder und gleichzeitig Emotionen, denn wäre da nur das Bild, dann wäre es wie ein Teilchen ohne elektrische Ladung. Erst die „emotionale Ladung“ verleiht den Bildern Bedeutung. Es sind nach Jung
“geistige Existenzen, deren Eigenexistenz derjenigen des stofflichen Gegenstandes entspricht.“
Animus und Anima
Das „Andere“ im Menschen, seine unbewusste Seele, ist von gegengeschlechtlicher Natur: Anima ist ein archetypisches Bild der Frau, das jeder Mann seit jeher in sich trägt. Sie erscheint ihm nachts im Traum, vertraut und fremd, mütterlich, liebevoll, alles verschlingend, beängstigend und unheimlich zugleich. Anima verkörpert den weiblichen Aspekt im Manne, der sich, nach außen projiziert, oft in ihrem niedrigsten Aspekt auf der rein biologischen Ebene manifestiert.
In ihrem höchsten Aspekt ist sie die Kraft, die nach Ganzheit und Einheit drängt. Anima verkörpert die Liebe und die Weisheit. Sie ist die Mittlerin zwischen dem Ich und dem Selbst, die lunare anima mundi, die Führerin nach innen. Entsprechendes gilt für den Animus bei der Frau.
Das aufgeblasene Bewusstsein
Für beide, Mann oder Frau, besteht die große Gefahr darin, sich im Archetyp zu verlieren, denn das Symbol besitzt „dämonische Macht“. Der Archetyp ergreift Besitz vom Individuum, wenn das bewusste Ich in seiner Überheblichkeit glaubt, das Symbol – und damit auch die ihm innewohnende Macht - zu besitzen. Man kann die Kräfte aus dem Unbewussten nicht beherrschen. Ein solcher Irrglaube führt zwangsläufig zu einem pathologischen Zustand - der Aufgeblasenheit des Bewusstseins:
„Ein aufgeblasenes Bewusstsein ist immer egozentrisch und nur seiner Gegenwart bewusst. Es ist unfähig aus der Vergangenheit zu lernen, unfähig, das gegenwärtige Geschehen zu begreifen, und unfähig, richtige Schlüsse auf die Zukunft zu ziehen. Es ist von sich selber hypnotisiert und lässt darum auch nicht mit sich reden. Es ist daher auf Katastrophen angewiesen, die es nötigenfalls totschlagen.“